Merkzeichen "H", Entziehung rechtswidrig, LSG NRW, Urt. v. 18.11.2016, L 13 SB 127/16

Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 18.11.2016, L 13 SB 127/16:

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"Die Beteiligten streiten über die Entziehung des Merkzeichens "H".

Bei dem am 00.00.1997 geborenen Kläger wurden mit Bescheid des Versorgungsamtes B vom 27.04.1998 ein Grad der Behinderung (GdB) von 50 sowie das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens "H" festgestellt. Im Rahmen einer Nachprüfung stellte das Versorgungsamt B mit Bescheid vom 17.08.2000 "unter entsprechender Aufhebung" seines Bescheides vom 27.04.1998 einen GdB von 60 fest. In der Begründung wurde in den Abschnitten "Ausweisinhalt" und "Gültigkeitszeitraum" auch das Merkzeichen "H" erwähnt. Im Rahmen einer weiteren Nachprüfung stellte die zwischenzeitlich zuständig gewordene Beklagte mit Bescheid vom 11.05.2012 "unter entsprechender Aufhebung" ihres Bescheides vom 17.08.2000 einen GdB von 100 fest. Der Kläger erfülle außerdem die gesundheitlichen Voraussetzungen der Merkzeichen "G" und "B". Auch in der Begründung dieses Bescheides wurde in den Abschnitten "Ausweisinhalt" und "Gültigkeitszeitraum" das Merkzeichen "H" erwähnt.

Im Rahmen einer 2015 eingeleiteten Nachprüfung kam der versorgungsärztliche Dienst der Beklagten zu dem Ergebnis, dass die gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens "H" nicht mehr erfüllt seien. Die Beklagte hörte den Kläger mit Schreiben vom 04.08.2015 zu einer entsprechenden Aufhebung des Bescheides vom 11.05.2012 an. Mit Bescheid vom 07.10.2015 hob die Beklagte "den Bescheid vom 11.05.2012 wie folgt auf ". Der GdB betrage 100. Die gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens "H" lägen nicht mehr vor. In der Begründung wurden in den Abschnitten "Ausweisinhalt" und "Gültigkeitszeitraum" die Merkzeichen "G" und "B" erwähnt. Am 07.10.2015 legte die Mutter des Klägers Widerspruch ein, den die Bezirksregierung Münster mit Widerspruchsbescheid vom 09.12.2015 zurückwies.

Am 16.12.2015 hat der Kläger Klage vor dem Sozialgericht Aachen erhoben.

Die Beklagte hat vorgetragen, die früheren Bescheide seien durch die jeweils späteren aufgehoben worden. Die gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens "H" seien zuletzt mit Bescheid vom 11.05.2012 neu festgestellt worden.

Das Sozialgericht hat mit Urteil vom 23.02.2016 den Bescheid vom 07.10.2015 aufgehoben, soweit darin festgestellt werde, dass die gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens "H" nicht mehr vorlägen. Die angefochtenen Bescheide seien rechtswidrig, da die Beklagte unzutreffenderweise den Bescheid vom 11.05.2012 aufgehoben habe. Die letzte Regelung hinsichtlich des Merkzeichens "H" sei mit Bescheid vom 27.04.1998 getroffen worden. Schon aus der Formulierung der Bescheide ergebe sich, dass diese jeweils keine umfassende Neufeststellung träfen. Die vorangehenden Bescheide würden jeweils nur "entsprechend" aufgehoben. Die Ausführungen in den Abschnitten "Ausweisinhalt" und "Gültigkeitszeitraum" hätten keinen Regelungscharakter. Der angefochtene Bescheid könne wegen der ausdrücklichen Bezugnahme auf den Bescheid vom 11.05.2012 auch nicht dahingehend ausgelegt werden, dass tatsächlich der Bescheid vom 27.04.1998 aufgehoben werden solle.

Die Beklagte hat gegen das ihr am 11.03.2016 zugestellte Urteil am 08.04.2016 Berufung eingelegt. Sie hebe immer nur den jeweils letzten Bescheid auf. Der Bescheid vom 11.05.2012 sei im Hinblick auf das Merkzeichen "H" auch der letzte maßgebliche Bescheid. Entscheidend sei der erkennbare Wille, die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens "H" aufzuheben. Sie nimmt Bezug auf ein Urteil des Niedersächsischen LSG vom 27.11.2012 (L 10 SB 80/12), in dem zu einem gleich gelagerten Sachverhalt entschieden worden sei, dass erkennbar der maßgebliche frühere Bescheid aufgehoben werden sollte.

Die Beklagte beantragt schriftsätzlich,

das Urteil des Sozialgerichts Aachen vom 23.02.2016 zu ändern und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt schriftsätzlich,

die Berufung zurückzuweisen.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte und die beigezogene Verwaltungsakte der Beklagten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Der Senat entscheidet mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung gemäß § 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG).

Die zulässige Berufung ist unbegründet.

Das Sozialgericht hat der Klage zu Recht stattgegeben, da diese zulässig und begründet ist.

Die Städteregion Aachen ist richtige Beklagte (vgl. hierzu BSG, Urteil vom 06.10.2011 - B 9 SB 7/10 R, Rn 18).

Klageart ist eine reine Anfechtungsklage, da es unbeschadet des Wortlautes der angefochtenen Bescheide jedenfalls im Hinblick auf das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens "H", das einen abtrennbaren Streitgegenstand darstellt (vgl. hierzu BSG, Beschluss vom 12.12.1995 - 9 BVs 28/95, Rn 4; Beschluss vom 16.02.2012 - B 9 SB 48/11 B, Rn 12), unstreitig um eine Aufhebungsentscheidung nach § 48 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch - Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz (SGB X) geht (zur Klageart in diesen Fällen etwa BSG, Urteil vom 29.04.2010 - B 9 SB 2/09 R, Rn 22).

Das Erfordernis eines ordnungsgemäßen Vorverfahrens (§ 78 Abs. 1 SGG) ist erfüllt. Unabhängig davon, ob die Mutter des seinerzeit bereits volljährigen Klägers bei Einlegung des Widerspruchs am 13.10.2015 bevollmächtigt war, ist jedenfalls von einer konkludenten rückwirkenden Genehmigung durch den Kläger auszugehen (vgl. hierzu Roller, in: von Wulffen, SGB X, 8. Aufl. 2014, § 13 Rn 12).

Der Kläger ist durch die angefochtenen Bescheide im Sinne von § 54 Abs. 2 Satz 1 SGG beschwert, da diese im Hinblick auf das streitige Merkzeichen "H" rechtswidrig sind.

Rechtsgrundlage der angefochtenen Bescheide ist § 48 SGB X. Gemäß § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X ist, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die beim Erlass eines Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt, der Verwaltungsakt mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben. Grundvoraussetzung einer Aufhebungsentscheidung ist das Vorliegen einer entsprechenden (korrigierbaren) Regelung i.S.v. § 31 SGB X (vgl. hierzu Schütze, in: von Wulffen, SGB X, 8. Aufl. 2014, § 45 Rn 25a). Daran fehlt es hier. Der Bescheid vom 11.05.2012, auf den allein es ankommt, enthält keine Regelung der gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens "H" (vgl. zu ähnlichen Fällen LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 17.12.2015 - L 6 SB 4878/13, juris Rn 29 f.; SG Dortmund, Urteil vom 04.12.2014 - S 18 SB 4274/13, juris Rn 22 ff.).

Nach dem maßgeblichen objektiven Empfängerhorizont (vgl. Schütze, a.a.O., Rn 27a) heben die angefochtenen Bescheide (nur) den Bescheid vom 11.05.2012 (teilweise) auf. Dies ergibt sich aus den entsprechenden ausdrücklichen Formulierungen im Anhörungsschreiben und in den angefochtenen Bescheiden selbst: "mit Bescheid vom 11.05.2012 habe ich Ich beabsichtige daher, den Bescheid vom 11.05.2012 aufzuheben" (Anhörungsschreiben vom 04.08.2015); " hebe ich den Bescheid vom 11.05.2012 auf" (Bescheid vom 07.10.2015). Diese Formulierungen lassen keinen Spielraum für eine Auslegung dahingehend, dass frühere Bescheide, insbesondere der vom 27.04.1998, gemeint sein könnten. Soweit im Urteil des Niedersächsischen LSG vom 27.11.2012 (L 10 SB 80/12) etwas anderes angenommen worden sein sollte, wäre dies unbeschadet der Frage der Vergleichbarkeit der Sachverhalte nicht überzeugend. Anhaltspunkte für eine offenbare Unrichtigkeit i.S.v. § 38 SGB X bestehen hier nicht. Die Beklagte hat durch ihren Vortrag bis zur Bezugnahme auf das vorgenannte Urteil im Gegenteil bestätigt, dass es ihr gerade um die Aufhebung des Bescheides vom 11.05.2012 ging.

Der Bescheid vom 11.05.2012 enthält keine Regelung der gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens "H". Maßgeblich ist der Verfügungssatz des Bescheides (vgl. BSG, Urteil vom 13.02.2013 - B 2 U 25/11 R, Rn 23). Dieser findet sich hier - wie üblich - am Anfang des Bescheides vor dem Abschnitt "Gründe". Dort werden Regelungen zum GdB und den Merkzeichen "G" und "B", nicht aber zum Merkzeichen "H" getroffen. Dessen Erwähnung in den Abschnitten "Ausweisinhalt" und "Gültigkeitszeitraum" stellt dagegen keine Regelung dar. Zwar können Ausführungen in den Gründen eines Bescheides ebenfalls Regelungscharakter haben. Dies setzt aber umso mehr eine Erkennbarkeit des Regelungswillens voraus. Hier spricht gegen eine Regelungsabsicht, dass Regelungen zu Merkzeichen bereits am Anfang des Bescheides erfolgen und dass das Merkzeichen "H" nur in solchen Abschnitten der Begründung erwähnt wird, in denen es um den sog. Schwerbehindertenausweis geht (vgl. zu diesem zuletzt BSG, Urteil vom 11.08.2015 - B 9 SB 2/15 R, Rn 26). Wie das Sozialgericht zutreffend ausführt, kann es sich bei diesen Ausführungen deshalb nur um unverbindliche Hinweise handeln, weil ein solcher Ausweis gemäß § 69 Abs. 5 Satz 1 SGB IX erst auf einen weiteren Antrag hin ausgestellt wird.

Es ist auch nicht ersichtlich, dass die Beklagte bzw. deren Rechtsvorgängerin im Fall einer Änderung der Verhältnisse grundsätzlich sämtliche bestehenden Merkzeichen und den GdB konstitutiv neu feststellen bzw. festgestellt haben. Dies zeigen etwa die Bescheide vom 17.08.2000 und 11.05.2012. Im Jahr 2000 wurde der GdB erhöht. Zum Merkzeichen "H", das unstreitig weiter bejaht wurde, findet sich im Verfügungssatz nichts. Als 2012 dann auch die gesundheitlichen Voraussetzungen der Merkzeichen "G" und "B" bejaht wurden, erfolgte die entsprechende Feststellung im Verfügungssatz. Diese Gestaltung der Bescheide im zeitlichen Verlauf spricht dafür, dass immer nur eine Regelung im Hinblick auf den jeweils geänderten bzw. neu hinzugekommenen Gegenstand erfolgen sollte und erfolgt ist. Dieses Verständnis entspricht der Qualifizierung von Feststellungsbescheiden nach § 69 SGB IX als Dauerverwaltungsakte (vgl. Steinwedel, in: KassKomm, Stand: März 2016, § 45 SGB X Rn 20), die eine umfassende Neufeststellung nicht erfordern (vgl. SG Dortmund, Urteil vom 04.12.2014 - S 18 SB 4274/13, juris Rn 23).

Selbst wenn die Ausführungen zum Merkzeichen "H" in den Abschnitten "Ausweisinhalt" und "Gültigkeitszeitraum" Verfügungscharakter hätten, handelte es sich lediglich um eine wiederholende Verfügung, die keine neue Rechtsfolge setzt und damit keinen Bescheid darstellt (vgl. hierzu LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 17.12.2015 - L 6 SB 4878/13, a.a.O.; SG Dortmund, Urteil vom 04.12.2014 - S 18 SB 4274/13, a.a.O.; allgemein zur wiederholenden Verfügung Engelmann, in: von Wulffen, SGB X, 8. Aufl. 2014, § 31 Rn 32 ff.; Mutschler, in: KassKomm, Stand: Oktober 2014, § 31 SGB X Rn 16).

Soweit die Beklagte maßgeblich darauf abstellt, dass erkennbar das Merkzeichen "H" entzogen werden sollte und die Benennung des aufzuhebenden Bescheides zweitrangig sei, verkennt sie, dass schon dem Wortlaut der §§ 44 ff. SGB X nach zentraler Bezugspunkt von Aufhebungsentscheidungen nicht Regelungen als solche, sondern Bescheide sind. Dies zeigt sich auch in der Rechtsprechung des BSG zu Aufhebungs- und Erstattungsentscheidungen im SGB II (vgl. BSG, Urteil vom 29.11.2012 - B 14 AS 196/11 R, Rn 16 ff.). Dort wird es zwar als unschädlich für die Bestimmtheit einer Aufhebungsentscheidung angesehen, wenn nicht sämtliche für den Bewilligungszeitraum ergangenen Leistungsbescheide in der Aufhebungsentscheidung genannt werden. Eine Erstattungsforderung könne gleichwohl nicht ergehen, soweit einzelne Leistungsbescheide mangels ausdrücklicher Erwähnung nicht aufgehoben würden und damit einen Rechtsgrund für die Leistung darstellten.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Anlass, die Revision nach § 160 Abs. 2 SGG zuzulassen, besteht nicht. Ein Fall von § 160 Abs. 2 Nr. 2 SGG liegt nicht vor. Die Sache hat auch nicht etwa wegen des von der Beklagten in Bezug genommenen Urteils des LSG Niedersachsen-Bremen vom 27.11.2012 (L 10 SB 80/12) grundsätzliche Bedeutung gemäß § 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG (vgl. zu dieser Variante bei abweichenden Entscheidungen anderer Landessozialgerichte Leitherer, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Aufl. 2014, § 160 Rn 11). Im vorgenannten Urteil, bei dem es sich um eine unveröffentlichte Einzelrichterentscheidung handelt, erfolgen maßgeblich Ausführungen zur Bestimmtheit der dort gegenständlichen Aufhebungsentscheidung, worum es hier nicht geht. Es ist auch nicht erkennbar, dass dort andere Auslegungsgrundsätze herangezogen worden wären als vom erkennenden Senat."

 

Anmerkung Rechtsanwalt Dr. Heimbach:

Das Merkzeichen "H" begründet erhebliche Nachteilsausgleiche. Die Praxis der Versorgungsbehörden bei der Entziehung ist oft recht "schablonenhaft". Das Erreichen eines versorgungsmedizinischen "Regelalters" von 16 bzw. 18 Lebensjahren wird pauschal zum Anlass genommen, das Merkzeichen abzuerkennen.

Hierbei wird nicht nur häufig medizinisch oberflächlich ermittelt. Sehr oft werden auch die einschlägigen komplizierten Verfahrensvorschriften nicht zutreffend angewandt.

Dafür ist das hier zitierte Urteil des LSG NRW ein gutes Beispiel: Die Versorgungsbehörde hatte das Erreichen der Volljährigkeit zum Anlass genommen, das Merkzeichen "H" zu entziehen, hob hierbei aber den Bescheid, durch den es dieses Merkzeichen ursprünglich zuerkannt hatte, überhaupt gar nicht wirksam auf!

Verfahrensfehler dieser Art werden durch den rechtlichen "Laien" - und oft genug auch durch nicht spezialisierte Juristen - nicht erkannt. Gerade auch in "Entziehungsfällen" kann daher nicht dringend genung geraten werden, als "erste Hilfe" zeitnah Rechtsmittel einzulegen und möglichst auch anwaltlich vertreten zu lassen.