Schwerbehinderung, Herabsetzung des GdB, LSG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 12.1.2017, L 13 SB 3/16

Landessozialgericht Berlin-Brandenburg, Urteil vom 12.1.2017, L 13 SB 3/16:

[...]

"Die Beteiligten streiten über die Herabsetzung des Grades der Behinderung (GdB).

Mit Bescheid vom 7. Dezember 2004 hatte der Beklagte bei der Klägerin für die Behinderung

Teilverlust der Brust links, Erkrankung der Brust links (Heilungsbewährung)

einen Grad der Behinderung von 50 festgestellt. Im November 2009 leitete er von Amts wegen ein Nachprüfungsverfahren ein. Er setzte nach Abschluss der Ermittlungen mit Bescheid vom 4. Juni 2010 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 4. Mai 2011 den Grad der Behinderung mit Wirkung ab 4. Juni 2010 auf 30 herab. Hierbei ging er von folgenden Behinderungen aus:

1. psychische Minderbelastbarkeit (Einzel-GdB von 20), 2. Harnblasenentleerungsstörung (Einzel-GdB von 20), 3. Teilverlust der linken Brust (Einzel-GdB von 10), 4. Lymphödem des linken Armes (Einzel-GdB von 20).

Die Klägerin hat hiergegen Klage bei dem Sozialgericht Potsdam erhoben. Der Beklagte hat mit Schriftsatz vom 28. November 2012 ein Teilanerkenntnis dahingehend abgegeben, dass bei der Klägerin ein Grad der Behinderung von 40 ab 17. Juli 2012 festgestellt werde. Mit Schriftsatz vom 17. April 2013 gab er ein weiteres Teilanerkenntnis ab, wonach der Grad der Behinderung von 40 bereits vom 17. August 2010 an wirksam sein solle. Das Sozialgericht hat Beweis erhoben durch Einholung des Gutachtens des praktischen Arztes M vom 24. August 2015 mit ergänzender Stellungnahme vom 2. November 2015. Der Sachverständige hat den Grad der Behinderung bei der Klägerin im Mai 2011 mit 40 eingeschätzt. In der mündlichen Verhandlung vor dem Sozialgericht hat die Klägerin die Aufhebung der angefochtenen Bescheide insoweit begehrt, als ein geringerer Grad der Behinderung als 50 festgestellt wurde. Das Sozialgericht Potsdam hat die Klage mit Urteil vom 18. November 2015 abgewiesen.

Mit Ausführungsbescheid vom 7. Dezember 2015 hat der Beklagte den Grad der Behinderung von 40 ab 17. August 2010 festgestellt.

Mit der Berufung wendet sich die Klägerin gegen die gerichtliche Entscheidung.

Die Klägerin beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Potsdam vom 18. November 2015 aufzuheben sowie den Bescheid des Beklagten vom 4. Juni 2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 4. Mai 2011 in der Fassung des Ausführungsbescheides vom 7. Dezember 2015 aufzuheben.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er hält an seiner Entscheidung fest.

Wegen der weiteren Ausführungen der Beteiligten wird auf deren Schriftsätze Bezug genommen. Ferner wird auf den übrigen Inhalt der Gerichtsakte und des Verwaltungsvorgangs der Beklagten verwiesen, die vorgelegen haben und Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.

Entscheidungsgründe:

Der Senat konnte ohne mündliche Verhandlung durch Urteil entscheiden, da die Beteiligten hiermit einverstanden sind (§ 153 Abs. 1 in Verbindung mit § 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz -SGG-).

Die zulässige Berufung der Klägerin ist begründet.

Das Sozialgericht hat auf die Anfechtungsklage zu Unrecht den Bescheid des Beklagten vom 4. Juni 2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 4. Mai 2011 in der Fassung des Ausführungsbescheides vom 7. Dezember 2015 nicht aufgehoben. Denn die behördliche Entscheidung ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten.

Rechtsgrundlage für einen Absenkungsbescheid ist § 48 Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch, Zehntes Buch (SGB X). Danach ist der Verwaltungsakt mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die bei dem Erlass eines Verwaltungsakts mit Dauerwirkung vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt. Im hier zu entscheidenden Fall handelt es sich bei dem ursprünglichen Festsetzungsbescheid um einen Verwaltungsakt mit Dauerwirkung. Ob im Sinne der genannten Vorschrift in den tatsächlichen Verhältnissen, die beim Erlass dieses Verwaltungsakts vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eingetreten ist, kann indes dahinstehen, denn entgegen § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X wurde der Festsetzungsbescheid nicht mit Wirkung für die Zukunft aufgehoben.

Nach dem Verfügungsteil des Bescheides vom 4. Juni 2010 sollte die Aufhebungswirkung am selben Tag eintreten. Gemäß § 39 Abs. 1 Satz 1 SGB X wird jedoch ein Verwaltungsakt gegenüber demjenigen, für den er bestimmt ist oder der von ihm betroffen wird, (erst) in dem Zeitpunkt wirksam, in dem er ihm bekannt gegeben wird. Mithin konnte die Wirkung des angefochtenen Verwaltungsakts gegenüber der Kläger erst ab der Bekanntgabe im Sinne des § 37 SGB X eintreten und nicht bereits am Tag der Erstellung des Bescheides. Tatsächlich handelte es sich damit um eine Aufhebung mit Wirkung bereits für die Vergangenheit und nicht für die Zukunft.

Die Rechtswidrigkeit führt auch zur Aufhebung der Absenkung. Insbesondere kommt eine Aufhebung nur für die Zeit vor Bekanntgabe des Bescheides nicht in Betracht, da eine Teilbarkeit des Bescheides in zeitlicher Hinsicht nicht gegeben ist. Ein Bescheid, mit dem eine begünstigende Feststellung im Schwerbehindertenverfahren ganz oder teilweise aufgehoben wird, ist nicht derart in zeitlicher Hinsicht teilbar, dass einer rechtswidrig früh einsetzenden Wirkung durch Aufhebung des Bescheides nur für einen Teilzeitraum Rechnung getragen und der Bescheid im Übrigen aufrechterhalten werden könnte (so Urteil des Senats vom 28. Januar 2016 – L 13 SB 182/15 –, juris; a.A. 11. Senat des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg, Urteil vom 23. Juli 2015 – L 11 SB 157/11 –, juris). Bei einem Entziehungsbescheid, der eine günstige Feststellung in einem Dauerverwaltungsakt ändert, handelt es sich seinerseits nämlich nicht um einen Dauerverwaltungsakt (so Bundessozialgericht, Urteil vom 29. April 2015 – B 14 AS 10/14 R –, juris). Seine Wirkung beschränkt sich darauf, den aufzuhebenden Dauerverwaltungsakt zu dem von der Behörde bestimmten Zeitpunkt ganz oder teilweise aufzuheben. Für nachfolgende Zeiträume enthält er hingegen keine Feststellungen. Maßgeblich ist insoweit allein der ursprüngliche Dauerverwaltungsakt in der Fassung, die er durch den Absenkungsbescheid erhalten hat. Diese zeitlich punktuelle Wirkung eines Aufhebungsbescheides führt dazu, dass eine Regelung, welche die innere Wirksamkeit der Aufhebung erst später eintreten lässt, – anders als eine geringer ausfallende Entziehung der Begünstigung – kein Minus gegenüber der ursprünglichen Regelung darstellt, sondern ein Aliud.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und berücksichtigt den Ausgang des Verfahrens.

Gründe für eine Zulassung der Revision gem. § 160 Abs. 2 SGG sind nicht gegeben, zumal der Beklagte unterdessen seine Verwaltungspraxis geändert hat." 

 

Anmerkung Rechtsanwalt Dr. Heimbach:

Bescheide der Versorgungsämter, durch die der Grad der Behinderung herabgesetzt wird, sind immer wieder ungeachtet der medizinischen Sachfragen bereits unter verwaltungs(verfahrens)rechtlichen Gesichtspunkten fehlerhaft. Äußerst bemerkenswert ist die Begründung, mit der das Landessozialgericht einen Herabsetzungsbescheid, ohne auf die medizinischen Sachfragen einzugehen, gänzlich aufgehoben hat: Die Versorgungsbehörde hatte lediglich den "kleinen Fehler" gemacht, die aufhebende Wirkung ihres Bescheides ausdrücklich mit dem Tag der Ausstellung des Bescheides (statt verfahrensrechtlich korrekt mit dem Tag der Bekanntgabe des Bescheides) eintreten zu lassen.