Schwerbehinderung bei Depression und Suchtkrankheit, LSG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 7.12.2017, L 13 SB 148/16

Landessozialgericht Berlin-Brandenburg, Urt. v. 7.12.2017, L 13 SB 148/16

"[...]Die Beteiligten streiten über die Höhe des bei dem Kläger festzustellen Grades der Behinderung (GdB).

Bei dem Kläger war 2009 ein GdB von 40 festgestellt worden. Den Neufeststellungsantrag des Klägers vom 14. September 2012 mit Ergänzung vom 20. Februar 2013 lehnte der Beklagte durch Bescheid vom 5. August 2013 mit der Begründung ab, dass weiterhin ein GdB von 40 vorläge. Hiergegen erhob der Kläger Widerspruch und stellte einen Verschlimmerungsantrag, mit dem er das Merkzeichen G begehrte. Diesen Antrag lehnte der Beklagte mit Bescheid vom 11. November 2013 ab.

Am 26. November 2013 hat der Kläger bei dem Sozialgericht Berlin Klage erhoben. Während des Klageverfahrens wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 17. Dezember 2013 den Widerspruch bezüglich der Ablehnung eines höheren GdB und der Zuerkennung des Merkzeichens G zurück. Hierbei berücksichtigte er folgende Behinderungen:

1. Suchtkrankheit, Depression, kognitive Teilleistungsschwäche (Einzel-GdB von 40), 2. degenerative Veränderungen der Wirbelsäule, muskuläre Verspannungen/Muskelreizerscheinungen der Wirbelsäule (Einzel-GdB von 20), 3. Herzrhythmusstörungen (Einzel-GdB von 10), 4. Beschwerden nach Sprunggelenkbruch rechts 1991, Gicht (Einzel-GdB von 10).

Das Sozialgericht hat neben Befundberichten das Gutachten der Fachärztin für Allgemeinmedizin Dr. B vom 11. November 2015 mit ergänzender Stellungnahme vom 23. Dezember 2015 eingeholt, die den GdB auf 40 eingeschätzt hat. Die Sachverständige ermittelte hierzu folgende Behinderungen: 1. Seelische Störung (Einzel-GdB von 40), 2. Wirbelsäulenleiden (Einzel-GdB von 20), 3. Herzrhythmusstörungen (Einzel-GdB von 10), 4. Funktionsbehinderung beider Sprunggelenke, Gicht (Einzel-GdB von 10), 5. Gleichgewichtsstörungen (Einzel-GdB von 10).

In der mündlichen Verhandlung vor dem Sozialgericht hat der Kläger sein Begehren auf die Zuerkennung eines GdB von 50 reduziert. Mit Urteil vom 15. April 2016 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen.

Hiergegen richtet sich die Berufung des Klägers, mit der er zunächst einen GdB von mindestens 50 begehrt hat. Im Erörterungstermin vor dem Berichterstatter hat er sein Klagebegehren auf einen GdB von 50 beschränkt. Er hat diverse Berichte des I K Berlin eingereicht, in welchem der Kläger am linken Sprunggelenk operiert worden ist. Der Senat hat den Befundbericht der Ärztin Dr. N vom 15. April 2017 mit Ergänzung vom 28. Juli 2017 eingeholt.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 15. April 2016 zu ändern sowie den Beklagten unter Änderung des Bescheides vom 5. August 2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17. Dezember 2013 zu verpflichten, bei ihm mit Wirkung ab dem 14. September 2012 einen Grad der Behinderung von 50 festzustellen.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er hält die sozialgerichtliche Entscheidung für zutreffend.

Dem Senat haben die Verwaltungsvorgänge des Beklagten vorgelegen. Diese sind Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird Bezug genommen auf die Schriftsätze, das Protokoll und die Verwaltungsvorgänge des Beklagten.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung des Klägers ist begründet.

Der Kläger hat Anspruch auf Feststellung eines GdB von 50 mit Wirkung ab dem 14. September 2012.

Nach den §§ 2 Abs. 1, 69 Abs. 1 Sozialgesetzbuch, Neuntes Buch (SGB IX) sind die Auswirkungen der länger als sechs Monate anhaltenden Funktionsstörungen nach Zehnergraden abgestuft entsprechend den Maßstäben des § 30 Bundesversorgungsgesetz zu bewerten. Heranzuziehen sind hierbei die in der Anlage zur Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) vom 10. Dezember 2008 (BGBl. I S. 2412) festgelegten "Versorgungsmedizinischen Grundsätze".

Auf psychiatrischem Fachgebiet leidet der Kläger an einer seelischen Störung. Der Senat ist nach Würdigung der Ausführungen der in der ersten Instanz herangezogenen Sachverständigen Dr. B in Übereinstimmung mit der Einschätzung des Beklagten zu der Überzeugung gelangt, dass dieses Leiden nach Teil B Nr. 3.7 der Anlage zu § 2 VersMedV mit einem Einzel-GdB von 40 zu bewerten ist.

Daneben bestehen bei dem Kläger Funktionsbehinderungen der Wirbelsäule, für die nach Teil B Nr. 9 der Anlage zu § 2 VersMedV ein Einzel-GdB von 20 in Ansatz zu bringen ist.

Die Herzrhythmusstörungen des Klägers sind nach Teil B Nr. 9.1.6 der Anlage zu § 2 VersMedV mit einem Einzel-GdB von 10 zu bewerten. Ein Einzel-GdB in dieser Höhe ist seit Antragstellung auch für die Behinderungen im Funktionssystem der Beine zu vergeben. Neben der Gicht liegen Funktionsbehinderungen beider Sprunggelenke vor. Ob hinsichtlich der letztgenannten Behinderung eine Änderung durch die Operation Ende Juni 2017 kann derzeit nicht festgestellt werden, da der Kläger noch immer an den Folgen der Operation leidet; nach einer Fistelbildung im linken Oberschenkel besteht weiterhin eine Sekretion der Wunde.

Entgegen der Einschätzung der Sachverständigen Dr. B bewertet der Senat die Gleichgewichtsstörungen des Klägers mit einem Einzel-GdB von 20. Er ist nach der Gesamtwürdigung der vorliegenden medizinischen Unterlagen und der Angaben des Klägers davon überzeugt, dass – wie bereits das Sozialgericht dargelegt hat – die Gleichgewichtsstörungen leichte, aber noch keine mittelgradigen Folgen zeitigen. Nach Teil B Nr. 5.3 der Anlage zu § 2 VersMedV ist hierfür ein Einzel-GdB von 20 vorgesehen.

Liegen – wie hier – mehrere Beeinträchtigungen am Leben in der Gesellschaft vor, ist der GdB gemäß § 69 Abs. 3 SGB IX nach den Auswirkungen der Beeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen festzustellen. Nach Teil A Nr. 3c der Anlage zu § 2 VersMedV ist bei der Beurteilung des Gesamt-GdB von der Funktionsstörung auszugehen, die den höchsten Einzel-GdB bedingt, und dann im Hinblick auf alle weiteren Funktionsbeeinträchtigungen zu prüfen, ob und inwieweit hierdurch das Ausmaß der Behinderung größer wird. Unter Berücksichtigung dieser Vorgaben beträgt bei dem Kläger seit dem 14. September 2012 der Gesamt-GdB 50.

Der höchste Einzel-GdB von 40 für das psychische Leiden ist im Hinblick auf die Funktionsbehinderungen der Wirbelsäule, die mit einem Einzel-GdB von 20 zu bewerten sind, um einen Zehnergrad auf 50 zu erhöhen, da die Behinderungen unterschiedliche und voneinander unabhängige Funktionskreise betreffen. Eine weitere Anhebung des GdB im Hinblick auf die Gleichgewichtsstörungen ist weder beantragt worden noch zu rechtfertigen. Die weiteren Behinderungen des Klägers, die mit einem Einzel-GdB von 10 zu bewerten sind, führen zu keiner Erhöhung des GdB, da – von hier nicht vorliegenden Ausnahmefällen (z. B. hochgradige Schwerhörigkeit eines Ohres bei schwerer beidseitiger Einschränkung der Sehfähigkeit) abgesehen – zusätzliche leichte Gesundheitsstörungen, die nur einen GdB von 10 bedingen, nicht zu einer Zunahme des Ausmaßes der Gesamtbeeinträchtigung führen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Sie berücksichtigt den gegenseitigen Grad des Unterliegens der Beteiligten. Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) sind nicht erfüllt. "

 

Anmerkung Rechtsanwalt Dr. Heimbach:

Die Bedeutung von Depressionen wird bei der Beurteilung des Vorliegens einer Schwerbehinderung oft verkannt. Hier muss im Verfahren sauber zu den Beschwerden vorgetragen werden, damit das Gericht sich veranlasst sieht, einen geeigneten (weiteren) Gutachter zu beauftragen. Die pychischen Beeinträchtigungen müssen nicht so schwerwiegend sein, dass sie schon für sich zu einem Grad der Behinderung von 50 führen. Auch hinzutretende internistische, orthopädische oder andere Funktionsbeeinträchtigungen, die für sich gesehen als "eher marginal" wahrgenommen werden, können dann insgesamt zur Feststellung einer Schwerbehinderung führen.